Wort für den Tag

(La traduction en français se trouve après la prédication allemande.)

Predigt zum 2. Advent 

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Text: Jesaja 35, 3–10
Stärket die schlaffen Hände und festigt die wankenden Kniee. Saget zu denen, die verzagten Herzens sind: Seid getrost, fürchtet euch nicht. Siehe da, euer Gott. Er kommt, Rache zu üben. Die Vergeltung Gottes kommt, er selbst kommt und hilft euch. Dann werden die Augen der Blinden aufgeschlossen, und die Ohren der Tauben werden aufgetan. Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird jauchzen, denn in der Wüste brechen Wasser hervor und Bäche in der Steppe, und der glühende Sand wird zum Teich und das durstige Land zu Wasserquellen. An der Wohnstatt, wo Schakale lagerten, ist eine Stätte für Gras und Schilfrohr. Und dort wird eine reine Straße sein, Heiliger Weg wird man sie nennen. Kein Unreiner wird sie betreten, sie gehört seinem Volk, wenn es den Weg einher zieht. Toren werden auf ihr nicht in die Irre gehen. Dort wird kein Löwe sein, und kein reißendes Tier wird auf ihr umherschleichen, es ist keins dort anzutreffen. Sondern Erlöste werden darauf gehen, und die Befreiten des Herren werden heimkehren und nach Zion kommen mit Jauchzen, ewige Freude über ihrem Haupt. Freude und Wonne wird bei ihnen einkehren, und Leid und Seufzen werden fliehen.

Gebet:
Herr, in dir liegen verborgen Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Wir bitten dich, gib uns deinen Geist. Amen.

Liebe Gemeinde!

Für den 2. Advent wünscht man sich eigentlich einen gemütvollen Text, der geeignet ist, uns in eine Wohlfühl-Stimmung zu versetzen.

Stattdessen geht er sozusagen „in die Vollen“ und beschreibt eine körperliche Verfassung, die wir alle vermutlich gut nachempfinden können. Jeder von uns befand sich schon mindestens einmal in einer Situation, in der seine Knie schlotterten bzw. weich wie Pudding und seine Hände schweißnass bzw. wie Gummi waren. Und rasendes Herzklopfen vor Angst hatte wohl auch jeder schon mal. Für Angst gibt es viele Ursachen; Angst vor Geistern oder Gespenstern, der Dunkelheit, Angst vor Prüfungen, vor Verlassen werden aber auch vor Bindungen, Angst vor sozialem Abstieg, vor Krieg, vor der Zukunft. Die Liste ließe sich noch sehr lang fortsetzen, und jeder von uns mag sich im Stillen Rechenschaft darüber geben, wovor er oder sie Angst hat, was ihm oder ihr „schlaffe Hände“ und „wankende Knie“ macht.

Und das ist das Großartige an der Bibel. Sie ist mit dieser Welt verankert. Sie setzt sich mit unserer Realität auseinander. Sie fragt nicht danach, ob es sich um begründete oder unbegründete, berechtigte oder unberechtigte, rationale oder irrationale Ängste handelt, denn Angst ist Angst. Die Bibel nimmt uns Menschen und unsere Verfassung ernst – aber belässt es nicht dabei. Sie hat der Angst etwas entgegenzusetzen. Es ist das „Fürchtet Euch nicht!“ Kein „Es wird schon werden oder alles nur halb so schlimm“. Nein, das „Fürchtet Euch nicht“ ist das Signal für eine bahnbrechende Änderung, einen Kurswechsel, eine Zeitenwende. „Fürchte Dich nicht“ sagt der Engel zu Maria, „Fürchtet Euch nicht“ wird den Hirten auf dem Felde gesagt, „Fürchtet Euch nicht“ ruft der Engel den Frauen am Ostermorgen zu. Und dieses „Fürchtet Euch nicht“ ist keine bloße Parole, sondern es gibt einen Garanten, nämlich Gott, und einen Sinn, einen tieferen Grund dafür. Gott will, dass wir zu den „Erlösten“ gehören.

Wie kann ich erlöst werden von meinen Ängsten, die mich an die Vergangenheit binden und die Zukunft hoffnungsloser erscheinen lassen?

Wie kann ich erlöst werden von dem Zwang, mich so ans Leben zu klammern, weil ich befürchte, der Tod könnte mein Leben als eine Kette von viel Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit ausweisen?

Wie kann ich erlöst werden von dem Gedanken – weil unsere Welt so voll von Unterdrückung und Krieg, von Hunger und Krankheit ist – sei es besser, nicht geboren zu sein.

Wie kann ich erlöst werden von diesen Fragen? Nicht durch den Tod, denn dann haben sie für mein Leben ja keine befreiende Antwort gefunden.

Es mag überraschend sein, aber wenn die Bibel von Erlösung spricht, dann meint sie Erlösung in erster Linie nicht so, wie es auf Todesanzeigen stehen kann „von schwerer Krankheit erlöst“. Biblisches Reden von Erlösung ist auch recht diesseitig. Nur auf ein Jenseits zu verweisen, würde uns nicht trösten, sondern vertrösten.

Unser Textwort ist solch ein Trostwort. Es spricht für uns in Bildern und Vergleichen. Für das Volk damals von 2 1/2 tausend Jahren war es eine unvorstellbare Wirklichkeit, die der Prophet ihnen da vor Augen malte. Von der Heimat vertrieben lagen 1000 km Wüste zwischen ihnen und Palästina. Unüberwindbar für den Rest des Volkes, der noch übriggeblieben war. Hier hinein spricht der Prophet: Seid getrost, euer Gott kommt, die Wüste wird euch Weg bieten, Blinde, Lahme, Taube werden geheilt. Freude und Wonne wird einkehren, und Leid und Seufzen werden fliehen. Die Zusage der Erlösung sollte nicht durch den Tod kommen, sondern ihnen mitten in ihrem trostlosen Leben begegnen. Da sollte sie beginnen. Erlösung, für die Menschen damals so unvorstellbar wie uns, wenn wir am traurigsten, verzagtesten sind. Davon frei werden? Zeichen der Erlösung fallen uns nicht in den Schoß. Wir müssen danach Ausschau halten. Aber ist ein solcher Glaube an Erlösung in der Gegenwart nicht genau so unbestimmt wie die Hoffnung auf ein besseres Jenseits? Es lässt sich nicht beweisen, dass Erlösung bereits gegenwärtige Wirklichkeit ist. Aber es lassen sich wohl Spuren entdecken. Wo Menschen den Mut finden und die Kraft, aller scheinbaren Sinnlosigkeit zum Trotz den Kampf gegen Hunger, Krankheit, Elend und Not in der Welt aufzunehmen und nicht nachzulassen, beginnt da nicht Erlösung? Wo jemand nach schwerer Krankheit gesund wird, beginnt da nicht Erlösung? Wo ein unheilbar Kranker die Kraft findet, sich mit seinem Leiden und Sterben müssen anzunehmen und ohne Verzweiflung auf den Tod zuzugehen, beginnt da nicht Erlösung? Wo jemand nach dem Tod des liebsten Menschen die Trauer über die Lücke und Leere überwindet, sich nicht mehr nur an die Vergangenheit klammert, beginnt da nicht Erlösung? Wo jemand sich trotz aller Demütigungen, Verfolgungen und Leiden nicht zum Hass und zur Vergeltung verleiten lässt, beginnt da nicht Erlösung? Wo jemand nicht aufgibt in seiner Liebe zu einem Menschen, der sich von ihn abgewendet hat – beginnt da nicht Erlösung?

Als Johannes der Täufer im Gefängnis lag, ließ er Jesus fragen: Bist du, der da kommen soll, bist du die Erlösung, der Erlöser? Soll das, was du sagst und tust, Erlösung sein. Jesus antwortete dem Johannes mit unserem Text: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden gesund, und Taube hören. So macht er deutlich: Was hier geschieht ist die Erfüllung der Verheißung Gottes. Die Erlösung, das Heilwerden der Welt beginnt nicht erst irgendwann, sondern ist angebrochen.

Wenn das nicht ein Grund ist, der Aufforderung in der Losung für den heutigen Sonntag nachzukommen: “Seht auf und erhebt Eure Häupter, weil sich Eure Erlösung naht.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

(OKIR’in Kempgen, 08.12.2024)