Wort für den Tag

(La traduction en français se trouve après la prédication allemande.)

Predigt zu Sprüche 8,22–36 zum Sonntag Jubilate

Wochenspruch: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. (2. Kor 5,17)

Liebe Gemeinde,

„Jubilate!“ – Jubelt! So ruft uns dieser Sonntag zu. Drei Wochen nach Ostern stehen wir noch ganz im Licht der Auferstehung, doch zugleich öffnet sich schon der Horizont auf das, was kommt: Pfingsten, die Ausgießung des Geistes, das neue Leben der Gemeinde. Und mittendrin, da begegnet uns heute eine Stimme aus den Tiefen des Alten Testaments. Eine Stimme, die singt, die ruft, die verlockt und lehrt – es ist die Stimme der Frau Weisheit.

Sprüche 8 ist eine der schönsten und geheimnisvollsten Stellen des Alten Testaments. Dort spricht die Weisheit selbst. Nicht über sie wird geredet – sie redet. Sie tritt auf wie eine Person, mit eigenem Willen, eigenem Wesen, mit einer Geschichte, die bis in die Anfänge der Welt zurückreicht. Sie sagt:

„ Sprichwörter 8, [22] Der Herr hat mich, die Weisheit,am Anfang seiner Schöpfung erschaffen.Ich war das erste seiner Werke vor aller Zeit.“

Hier spricht niemand Geringeres als eine Zeugin der Schöpfung. Frau Weisheit war dabei, als Gott die Welt schuf. Nicht als Zuschauerin – sondern als Mitwirkende, als Gottes Spielgefährtin, als die, die seine Freude an der Schöpfung teilt. Sie ist, so scheint es, der erste Gedanke Gottes.

Und doch begegnet sie uns nicht als etwas Fremdes oder Abgehobenes. Ganz im Gegenteil. Diese Weisheit redet zu uns. Sie steht auf den öffentlichen Plätzen, an den Wegkreuzungen, an den Toren der Stadt – dort, wo das Leben tobt. Sie sucht den Kontakt zu den Menschen, zu allen, nicht nur zu den Frommen, nicht nur zu Israel, sondern zu jedem und jeder. Ihre Stimme ist universell. Sie ruft nicht zur Tora, nicht zum Gesetz, nicht zum Opfer. Sie ruft zu Einsicht, zu Verstand, zu Gerechtigkeit, zu Lebensklugheit und – zur Freude.

Diese Frau Weisheit ist ein einzigartiges Wesen. Kein Prophet, kein Priester, kein Gesetzgeber im Alten Testament kommt ihr an Nähe zu Gott gleich. Sie ist älter als Mose, tiefer als Elia, umfassender als Salomo. Und bemerkenswert ist: sie ist weiblich. Nicht zufällig, sondern ganz ausdrücklich. Die hebräische Sprache kennt das grammatische Geschlecht – aber das allein erklärt nicht die Kraft und Tiefe dieses Bildes.

Frau Weisheit ist nicht einfach nur ein Stilmittel. Sie ist eine Gegenfigur zur männlichen Weisheitslehre, wie wir sie sonst in den Sprüchen finden – dort, wo Väter zu Söhnen sprechen, oft in einem moralisierenden, patriarchalen Ton. Die Frau Weisheit hingegen hat ein anderes Wesen: Sie ist werbend, offen, schöpferisch. Ihre Weisheit ist nicht normierend, sondern einladend. Sie verführt nicht zur Gesetzlichkeit, sondern zum Leben. Und genau darin liegt ihre Nähe zum Evangelium.

Der Sonntag Jubilate führt uns in die Freude an der Schöpfung. Die liturgischen Texte erzählen von Gottes Werk in der Welt – nicht nur vom Wunder der Auferstehung, sondern auch von den Wundern des Anfangs. Es ist ein Sonntag der neuen Schöpfung. Und genau an dieser Stelle schlägt unser Predigttext die Brücke: Frau Weisheit war bei der ersten Schöpfung dabei. Christus aber ist die Mitte der neuen Schöpfung. Und wir – so sagt Paulus im Wochenspruch – wir sind durch ihn neue Kreaturen geworden.

„Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ (2. Kor 5,17)

Diese neue Schöpfung ist keine bloße Wiederholung des Alten. Sie ist Transformation. Sie ist das Aufblühen einer Welt, in der Gottes Geist lebendig ist – nicht mehr nur im Gesetz, sondern in der Freiheit. Nicht mehr in Opferkult und Tempelritualen, sondern in der Gemeinschaft der Glaubenden. Die Weisheit Gottes ist in Christus sichtbar geworden. Und durch den Heiligen Geist – so wird es Pfingsten heißen – kommt diese Weisheit in uns zur Sprache.

Aber zurück zu Frau Weisheit. Ihre Rede in Sprüche 8 ist in vieler Hinsicht prophetisch. Sie kündigt an, was im Neuen Testament Wirklichkeit wird. Die Kirchenväter haben diese Figur nicht umsonst mit dem Logos Christi in Verbindung gebracht. Auch das Johannesevangelium beginnt mit einer Stimme von Anbeginn:

„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.“

So begegnet uns Christus – als Weisheit Gottes in Person. Aber bevor er als Mensch auftritt, spricht im Alten Testament schon diese weibliche Gestalt. Sie ist kein Schatten, kein Vorläufer – sie ist eigenständig und ernst zu nehmen. Vielleicht ist sie eine Brücke zwischen Altem und Neuem Testament. Und vielleicht ist sie auch eine Stimme, die uns hilft, weibliche Aspekte der göttlichen Wirklichkeit neu zu entdecken. In einer langen Tradition patriarchalischer Theologie wird Frau Weisheit oft übersehen oder umgedeutet. Aber sie steht da, deutlich, kräftig, poetisch – und sie sagt: „Wohl denen, die auf mich hören.“

Was sagt sie also genau?

„ Als er dann die Fundamente der Erde legte, 30 stand ich ihm als Handwerkerin zur Seite. Tag für Tag war es für mich eine Freude, die ganze Zeit lachte ich an seiner Seite.“ (Spr 8,30)

Ein wunderbares Bild: Die Weisheit ist nicht nur ernst und diszipliniert. Sie spielt! Sie hat Freude! Sie lacht mit Gott über die Welt, über die Schönheit des Kosmos, über das Werden des Lebens. Es ist eine Weisheit, die das Lachen nicht verlernt hat. Eine Weisheit, die aus der Nähe zu Gott kommt, nicht aus dem Abstand. Und sie lädt uns ein, mitzuspielen, mitzugestalten, mitzufreuen.

Gerade in der österlichen Zeit ist das ein starkes Bild. Zwischen Ostern und Pfingsten erleben wir liturgisch eine Zeit der Verwandlung. Der auferstandene Christus ist nicht mehr einfach „da“ – er erscheint, verschwindet, ist entrückt. Die Jünger sind in einer Übergangszeit: nicht mehr ganz in der alten Welt, aber auch noch nicht in der neuen. Genau hier ist Raum für die Weisheit. Denn Weisheit lebt vom Dazwischen. Sie vermittelt zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch, zwischen Schöpfung und Erlösung. Sie ist die Kunst, im Übergang zu leben – nicht ängstlich, sondern vertrauend.

Frau Weisheit ruft:

„Glücklich ist der Mensch, der auf mich hört – der Tag für Tag an meiner Haustür wacht und am Türpfosten auf mich wartet. “ (Spr 8,34)

Das ist kein autoritärer Befehl, sondern eine Einladung zur Aufmerksamkeit. Wer ihr gehorcht, lebt nicht im blinden Gehorsam, sondern in wacher Erwartung. Es ist ein Gehorsam des Hörens – ein Leben in Resonanz. So wie Maria, die „das Wort bewahrte in ihrem Herzen“. Oder wie die Jünger in Emmaus, deren Herzen brannten, als der Auferstandene zu ihnen sprach. Es ist ein Hören, das verwandelt.

Zum Schluss, liebe Gemeinde, bleibt die Frage: Wie klingt die Stimme der Weisheit heute?

Ich glaube, sie spricht leise, aber klar. In einer Welt voller Lärm und Polarisierung ist sie nicht die lauteste, aber vielleicht die zuverlässigste Stimme. Sie ruft uns zu einem Leben, das Gott nicht nur fürchtet, sondern liebt. Das nicht nur das Richtige tut, sondern das Gute sucht. Ein Leben, das dem neuen Menschen Raum gibt – dem Menschen in Christus, der in der Welt lebt wie Frau Weisheit: offen, schöpferisch, verlässlich und mit Freude.

„Glücklich ist der Mensch, der auf micht hört.“

Amen

(Prädikant: Markus Schwamborn)