Wort für den Tag

(La traduction en français se trouve après la prédication allemande.)

Predigt am 27.04.2025
Der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, sei mit uns allen!

Liebe Gemeinde!

Gibt es eine Art Schlüssel, um unser Leben in seiner ganzen Fülle und Tiefe zu erfahren?

Gibt es eine Art „Sesam öffne Dich“, die uns die Türen zu einer tieferen und umfassenderen Wirklichkeit öffnet?

Gibt es diesen goldenen Schlüssel, der uns mehr erkennen lässt, als das, was wir denken, sehen, wiegen, messen und mit unseren ausgeklügeltesten technischen Mittelnanalysieren und in unser sogenanntes objektives und wissenschaftliches Weltbild einfügen können?

Ich könnte hinzufügen:

Müssen wir mit unseren Sinnen und unserem Verstand möglichst viel erforscht, gedacht und gelesen haben, um zum Kern des Lebens vorzudringen?

Müssen wir also brillante Denker, Wissenschaftler, Theologen und Philosophen, Ingenieure oder welche Intellektuellen auch immer werden, um zu begreifen, was die Welt im Innersten zusammenhält?

Diese Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, stellt die berühmte Figur des Doktor Faust aus dem gleichnamigen Drama von Goethe.

Faust steht exemplarisch für den modernen und leidenschaftlich forschenden Menschen, den Vieldenker, der die Geheimnisse des Universums und Lebens ergründen will.

Das Fazit seiner langjährigen Forschung zitiere ich:

„Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug wie zuvor;
Heiße Magister, heiße Doktor gar
Und ziehe schon an die zehen Jahr
Herauf, herab und quer und krumm
Meine Schüler an der Nase herum-
Und sehe, dass wir nichts wissen können!
Das will mir schier das Herz verbrennen.

Faust hat viel Wissen angesammelt, viele Bücher gelesen. Er beschwört alle Wissenschaften seiner Zeit, sogar die Alchemie und erlangt doch keinen Durchbruch.

Vor lauter Verzweiflung will er sich das Leben nehmen. Genau in diesem Augenblick wird er vor sich selbst gerettet. Und wie: Das Läuten der Osterglockendringt in sein Zimmer. Chorgesang reißt ihn aus seinen dunklen Gedanken heraus. „Christ ist erstanden!“ tönt in seine alte Studierstube wie eine längst vergessene Botschaft! Faust wird es warm ums Herz! Längst vergessene Jugenderinnerungen werden in ihm wach…

Er spricht:

Faust
„Was sucht ihr, mächtig und gelind,
Ihr Himmelstöne mich am Staube?
Klingt dort umher, wo weiche Menschen sind.
Die Botschaft höre‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube
Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.
Zu jenen Sphären wage ich nicht zu streben,Woher die holde Nachricht tönt;
Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt,
Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben.
Ein unbegreiflich holdes Sehnen
Trieb mich durch Wald und Wiesen hinzugehen,
Und unter tausend heißen Tränen,
Fühlte ich mir eine Welt entstehen.
Dies Lied verkündete der Jugend muntere Spiele,
Der Frühlingsfeier freies Glück;
Erinnerung hält mich nun, mit kindlichem Gefühle,
Vom letzten, ernsten Schritt zurück.
O! tönet fort, ihr süßen Himmelslieder!
Die Träne quellt, die Erde hat mich wieder!“

Faust ist wie verwandelt.

Sehnsuchtsvoll blickt er auf seine Kindheit und Jugend zurück.

Damals war der Glaube harmonischer Teil seines Lebens, ja, eine Art Grundmelodie, die alles verzauberte und vertiefte. Keine zweifelnden Gedanken beschwerten seinen Glauben und sein Gemüt.

Er war eins mit sich und der Welt!
All das dringt auf ihn ein.
Faust hält es nicht mehr fest in seinem staubigen Gewölbe.
Er bricht auf zum Osterspaziergang!

Das Bemerkenswerte am Fortgang des Dramas ist, dass Faust sich jetzt nicht in einen gläubigen Christen verwandelt. Die Kraft dieses Einbruchs des Ostergeschehens in sein Grüblerleben ist dennoch stark. Dem kann er sich nicht entziehen.

Aber für ihn scheintder Glaube kein Schlüssel mehr zu sein, um zum Zentrum der Welt zu gelangen und sich davon ergreifen zu lassen. Trotzdem rettet ihn diese Osterszene vor der Verzweiflung.

Als würden Verstand und Gefühle im Widerstreit stehen,als wären zwei Seelen in seiner Brust, so wirkt er.

Goethe erschafft hier einen Menschentypus, der in seiner inneren Widersprüchlichkeit und seiner Sehnsucht wahrscheinlich als Repräsentant eines neuen Zeitalters gilt, das bis heute fortwirkt.

Vergessen wir nicht: Goethe ist Zeitgenosse jener Epoche gewesen, die es gewagt hat, die Bibel wissenschaftlich-kritisch zu hinterfragen: Die Epoche der Aufklärung. Das unabhängige kritische Denken wurde wie noch nie in der Geschichte gefeiert. Und ein Immanuel Kant machte deutlich, dass wir mit unserem Verstand die göttliche Wirklichkeit – bei ihm heißt es, die metaphysische Wirklichkeit – nicht erfassen können. Allerdings war er der Auffassung, dass wir Gott als rational nicht beweisbare Hypothese dennoch brauchen, um die Moral aufrecht zu erhalten. (Postulate)

Die Vertreter der Aufklärung befreiten sich historisch Stück für Stück von kirchlicher Bevormundung. Denken wir an den berühmten Satz des Franzosen Décartes: Ich denke, also bin ich. Ja, das Denken, die Rationalität, wurde in seiner Würde entdeckt.

Ein Immanuel Kant ermutigte dazu: Habe den Mut, von Deinem Verstand ohne die Leitung eines anderen Gebrauch zu machen!

Die Epoche der Aufklärung leitete auch die Emanzipation der Wissenschaften ein, wovon wir alle vielfältig bis heute profitieren.

Warum mache ich diesen kleinen Ausflug in die Geschichte?

Weil ich selber in meinem Glaubensleben mit einer bestimmten Form von Denken konfrontiert wurde, die den Verstand als oberste Instanz über alles stellte.

Ich war 14 oder 15 Jahre alt und erlebte so etwas wie einen Frühling meines Glaubens. Ein Lebensgefühl der Freude und des inneren Glücks durchdrangen mich, wie ich sie vorher so noch nie kannte. Ich mochte den Pfarrer in meinem Konfirmandenunterricht. Ich erinnere mich gut an seinen Rat, dass wir Kernsätze des evangelischen Glaubens nicht auswendig sondern uns inwendig, also mit dem Gefühl aneignen sollten.

Ich war so begeistert vom Evangelium, dass ich es auch in der eigenen Familie weitergeben wollte. Dabei geriet ich in endlose Diskussionen mit meinem Vater.

Er zitierte Faust und sprach: „Die Botschaft höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“

Dann meinte er: „Ingo, streng doch Deinen Verstand an!“ Mit anderen Worten: Ich bin das Opfer von Einbildung.

Sie können sich gut vorstellen, dass es eigentlich keinen Sinn ergab, auf einer reinen Verstandesebene zu diskutieren.

Diese Auseinandersetzung war für mich auch der Ausgangspunkt eines Lern – und Reifungsprozesses, der bis heute anhält.

Mir war damals intuitiv klar, dass ich im Gespräch Gott oder die göttliche Wirklichkeit nicht so einfach zu einem Gedankenobjekt machen konnte.

Ich erfuhr im Gebet, im Gottesdienst und in Momenten der Stille, dass diese Wirklichkeitsich begrifflich nicht so einfach in die Tasche stecken lässt.

Wir können Gott nicht besitzen.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin der letzte, der das Denken diskreditiert. Ich finde es auch wichtig, welche Gottesbilder wir mit uns tragen und mit anderen teilen.

Aber glauben Sie mir: Sie werden niemanden von ihrem Glauben überzeugen, wenn Sie nur wohlformulierte Definitionen mit ihm teilen.

Ich komme auf meine anfängliche Frage zurück:

Gibt es einen Schlüssel, um unser Leben in seiner ganzen Fülle und Tiefe zu erfahren?

Meine Antwort lautet: Ja, der Glaube. Aber darunter verstehe ich mehr als ein Für- Wahr-Halten von bestimmten Glaubensaussagen.

Im neutestamtlichen Sinne verstehe ich darunter das unmittelbare Vertrauen auf Gottes Mit-UNS-Sein an jedem Tag!

Ich erkenne es wieder in den vielen mutigen Menschen, deren Vertrauen Jesus geweckt hatte und die sich von ihm heilen ließen.

Wir wissen es doch schon längst. In Beziehungen zu leben, ist doch ohne Vertrauen unmöglich! Die Schriftstellerin Ricarda Huch geht sogar soweit und schreibt: Was suchen wir auf der Erde eigentlich anderes als Menschen? Das einzige, wonach wir mit Leidenschaft trachten, ist das Anknüpfen menschlicher Beziehungen. Unser Glück und Unglück hängt von unsern menschlichen Beziehungen ab. Eltern, Geschwister, Geliebte, Kinder, Freunde, Lehrer, Jünger….

Ich würde hinzufügen: Gott!

Wir würden nur einen kleinen Ausschnitt der Welt wahrnehmen, wenn wir sie bloß zum wissenschaftlichen oder gedanklichen Objekt machen. Das Abenteuer des Vertrauens bedeutet das Eintauchen in einer Welt voller Entdeckungen, Überraschungen und Sternstunden. Dazu gehören aber auch Enttäuschungen.

Aber all das führt uns immer tiefer in das Leben hinein.

Als ich die ökumenische Glaubensgemeinschaft von Taizé kennenlernte, wurde für mich eine neue Dimension in der Begegnung mit Gott sehr wichtig!

Es war die Dimension der von Frieden erfüllten Stille.

Das pure Gebet im Schweigen halte ich für etwas unsagbar Kostbares.

Wir können die Gegenwart Gottes auch jenseits der Worte und der pausenlosen Gedanken erfahren.

Das ist mir auch in der tunesischen Sahara deutlich geworden.

Vor kurzem war ich auf einer Pilgerreise mit Beduinen und Kamelen.

Es war eine unvergessliche Woche. Wir durchzogen nicht nur ein unendliches Meer an Sanddünen, sondern einen Ozean der Stille, in dem nur der Wind zu hören war.

Und wir waren eine Woche offline, abgenabelt von den Bild – und Text-Invasionen, die normalerweise pausenlos auf uns einströmen.

Es brauchte Zeit, bis unser pausenloses Denken zur Ruhe kam.

Sehr half uns auch der Rat unseres Leiters, uns achtsam Schritt für Schritt durch die Wüste zu bewegen und dabei auf unseren Atem zu achten.

Morgens gab es immer einen spirituellen Impuls. Danach sind wir bis Mittags im Schweigen unterwegs gewesen, um diese einmalige Landschaft intensiv wahrnehmen zu können. Wir wurden dazu eingeladen, ganz bei uns selber zu sein und den eigenen Gefühlen nachzuspüren. Diese 7- tägige Karawane war auch eine Reise nach innen.

Ich erinnere mich noch gut an einen Morgen-Impuls, der in mir bis jetzt nachhallt:

Das Zitat eines spirituellen Meisters lautete: Die Stille ist die wesentliche Sprache Gottes. Alles andere ist eine schlechte Übersetzung.

Unser spiritueller Führer wies uns darauf hin, dass ein besonderes Geschenk der Wüste auch darin bestehen kann, dass wir die göttliche Gegenwart als wachsende innere Freiheit und weiten Raum in uns selber erfahren.

Ich bin selber dankbar, dass es in der Tat solche Augenblicke gab, gleichsam wie eine sanfte Berührung.

Unsere Gruppe bestand aus 16 Personen. Die meisten davon waren gläubige Christen, auch wenn das keine Voraussetzung war, um an dieser Reise teilzunehmen.

Sicher lag für uns Teilnehmer die größte Herausforderung, dass das Denken zur Ruhe kommt. – Sind wir nicht alle Kinder eine Kultur, in der das Denken, befeuert durch den unablässigen Strom der Medien, kaum zur Ruhe kommt? –  Jedenfalls merkten wir, dass uns die Wüsteeine Gelegenheit bot, im Kopf ein Stück zur Ruhe zu kommen.

Mein Eindruck: Wir sind in der Lage, die göttliche Wirklichkeit jenseits des Denkens zu erfahren, ja, sogar Momente zu erleben, in denen wir uns überhaupt nicht mit dem Denken identifizieren.

Jeder, der ein Stück Meditationserfahrung hat, weiß darum, dass wir in der Lage sind, zum Denken sogar ein Stück Abstand zu nehmen.

Wir können dabei erkennen, dass unsere Identität in etwas viel Tieferes eingebettet ist, als unser Verstand.

Um also unser Vertrauen in Gottes Gegenwart zu nähren, benötigen wir heutzutage nichts mehr, als eine gewisse Kultur der Stille und der bewussten Wahrnehmung, was in uns geschieht.

Dazu brauchen wir nicht in die Wüste zu ziehen.

Was wir brauchen, ist ein Vertrauen des Herzens bei dieser Erkundung.

Darum weiß die christlich-spirituelle Tradition. Darum wusste auch der berühmte Mathematiker, Philosoph und gläubige Christ, Blaise Pascal, der ebenfalls in der Epoche der Aufklärung lebte. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass die Gotteserfahrung ihre Wurzel nicht im Denken hat. Nach seinem Tod fand man in Stoff eingenäht, Papierfetzen, auf die er eine Botschaft geschrieben hatte, die er zu Lebezeiten mit niemandenteilte.

Man nannte dieses Schriftstück das Memorial:

„Jahr der Gnade 1654/ Montag, der 23. November“….
Seit ungefähr abends halb 11 bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht.
„Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philophen und Gelehrten“
Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede, Friede. Gott Jesu Christi
Nur auf den Wegen, die das Evangelium lehrt, ist er zu finden.
Größe der menschliche Seele!
Freude, Freude, Freude und Tränen der Freude…
Möge ich nie von ihm geschieden sein…“

Der große Intellektuelle Blaise Pascal kam in dieser Nacht zu einer anderen Erkenntnis, als sein Zeitgenosse Décartes, der die Selbstgewissheit im Denken verankerte.

Blaise Pascal drang zur Gewissheit des Herzens vor. Er war überwältigt von dem, was er in jener Nacht erfuhr. Es hat ihn wie eine Hintergrundmusik für den Rest seines Lebens begleitet und sein Denken bestimmt.

Von ihm stammt der berühmte Satz: Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.

Darum, liebe Gemeinde, der Schlüssel zur Fülle des Lebens ist jenes schlichte Vertrauenin die Gegenwart Gottes in unserem Leben, zudem Jesus uns auf geniale Weise inspirierte.

Und der Friede, der höher ist als alle Vernunft, sei mit uns allen.

Amen